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Die neolithischen Sippen in Lasras Welt besitzen einen reichen Überlieferungsschatz und eine ausgeprägte Erzählkultur. In Geschichten über Götter und Geister, listige Ahnfrauen und tragische Helden finden die Menschen der Inseln ihre Identität und Geschichte, aber auch Orientierungshilfen für aktuelle Probleme. So liefern die Geschichten Impulse zur Aufklärung des Mordes. Vor allem aber kreisen sie um die eine große Frage im Hintergrund: Wie sollen Menschen miteinander umgehen, wie sollen sie ihre Gemeinschaft gestalten?

Eine dieser Geschichten spielt in der jüngsten Vergangenheit, reicht jedoch tief in den Brunnen der Vergangenheit hinunter, bis in die Zeiten von Lasra und ihren Freunden.

Instead of an introduction

The neolithic clans of Lasra´s world have a rich oral tradition and a vivid culture of narration. In the stories of gods and ghosts, cunning ancestors and tragic heroes the people of the Isles find their identity and history as well as a guideline for current problems. So the stories also give a fresh impetus to the solution of the murder. But above all they are revolving round the one big question always present: How should people deal with one another, how should they organize their community?

One of these stories is set in the present days although its roots are reaching back in the past down to the times of Lasra and her friends.

Textauszug:

Als ich sieben Jahre alt war, nahm mein Vater mich mit ins Schloß Strünkede. Wir lebten im Ruhrgebiet, zwischen Zechen, rußgeschwärzten Bergarbeitersiedlungen, Bierkiosken und Schrebergartenkolonien. Wie ein Relikt aus vergangener Zeit steht das im Kern mittelalterliche Wasserschloß inmitten dieser spröden neuzeitlichen Industrielandschaft. Und noch tiefer tauchten wir in den Brunnen der Zeit hinunter, nachdem wir die Eintrittskarten für das Vorzeitmuseum gelöst hatten und die steinernen und beinernen Artefakte entdecken gingen, die hinter den dicken Schloßmauern in liebenswert altmodischen Vitrinen vor sich hin staubten.

   "Das ist eine Feuersteinknolle", erklärte mir mein Vater. "Wenn du sie auf einen festen Untergrund legst und mit einem dicken Stein draufhaust, zerfällt sie in viele Teile. Die Splitter haben ziemlich scharfe Kanten, und du kannst sie als Messer oder Pfeilspitzen benutzen. Du mußt aber aufpassen, daß du die Knolle und nicht deine Finger triffst." In der Vitrine befand sich auch eine etwas unbeholfene Bleistiftzeichnung, auf der ein Mann mit wüstem Bart und Haupthaar in einer Art Felltunika auf dem Boden hockte und auf etwas herumhämmerte, das nur die besagte Feuersteinknolle sein konnte. Im Hintergrund stieg Rauch von einem Feuer auf, und drei Kinder tollten mit einem hundeähnlichen Geschöpf herum. Vielleicht sollte es aber auch ein Schaf sein.

   Das mit der Pfeilspitze fand ich deshalb besonders interessant, weil mein Vater mir ein paar Tage vorher versprochen hatte, einen Bogen zu basteln, ein Versprechen, das noch nicht eingelöst war. "Können  wir das auch machen?", fragte ich nicht ohne Hintergedanken. "Dann hätte ich Spitzen für meine Pfeile. Für den Bogen - du weißt schon." "Ja, ich weiß. Ich schnitz dir ein paar Pfeilspitzen aus Holz", versprach er. "Feuerstein gibt es hier bei uns nicht, aber weiter oben, im Norden, liegt er an manchen Stellen am Strand herum. Lasra ist nicht besonders gut im Feuersteinschlagen, aber dafür kennt sie alle Kräuter und Pflanzen." Natürlich wollte ich wissen, wer ´Lascha´ war. Ein Nachbarskind, das ich noch nicht kannte? Die hießen aber eher Koslowski, jedenfalls mit -ski am Ende, und davor Klaus oder Sabine. Oder eine der mysteriösen Erwachsenen, mit denen mein Vater in der Shamrock arbeitete? Komischer Name, so viel stand fest.

   Lasra, meinte er, sei schon lange tot. "Hm", machte ich, denn Kräuter und Pflanzen  fand ich eigentlich doch nicht so spannend. "Ich will dir eine Geschichte erzählen", sagte er, als er das jähe Absacken meines Interesses bemerkte. Und während er von Lasra und ihrem Dorf auf den Inseln im Norden erzählte, sah ich eine junge Frau in die Bleistiftzeichnung treten. Sie ging durch die Hütten und lachte mit den Kindern und lief aus dem Dorf hinaus, um im Hintergrund, wo ein kleiner Fluss durch die Felder mäanderte, irgendwelches Grünzeug zu pflücken. Ich stellte mir vor, das Grünzeug würde Fleisch fressen, und jetzt wurde es doch noch spannend. Mein Vater erzählte mir nach und nach die ganze Geschichte, und zwei Wochen später hat er mir auch den Bogen gebastelt. Mit der Zeit wurde Lasra meine Vertraute, eine Freundin, mit der ich reden konnte und die mit mir redete. Sie hatte nur den kleinen Nachteil, dass sie schon ziemlich lange tot war. Andererseits war das, wenn ich an meine ehemalige beste Freundin dachte, die nach einer kontroversen  Regelauslegung beim Gummitwist zur erbitterten Feindin mutiert war, möglicherweise gar kein Nachteil. 

   Wenn ich vorhin gesagt habe, daß mein Vater mir die ganze Geschichte erzählte, so ist das nur die halbe Wahrheit. Denn obwohl die Geschichte, wenn er sie erzählte, immer denselben Anfang und dasselbe Ende hatte und Lasra und Füchschen und der Stierherr darin vorkamen, so hätte ich die ganze Geschichte doch damals nicht verstanden. Immer, wenn er einen neuen Erzählzyklus begann - und ich ein wenig älter und klüger geworden war -, fügte er etwas hinzu, eine Person, einen Erzählstrang, eine technische Finesse. So erfuhr ich, daß die Menschen der Inseln ziemlich befremdliche Methoden hatten, ihre Toten zu bestatten, und daß sie in ihren halb unterirdischen Dörfern mit Gerüchen gelebt haben, die für uns heutige Menschen nahezu unerträglich wären. Und erst, als mit zwölf, dreizehn Jahren in meinem privaten Olymp Mick Jagger an die Stelle von Winnetou trat und ich Miniröcke zu tragen begann, mit denen ich mich nicht mehr hinsetzen konnte, sah ich die Sache zwischen Lasra und Errill mit anderen Augen. Natürlich wollte ich wissen, wie es mit den beiden weitergegangen war, und da erzählte er mir auch die anderen Geschichten, die er kannte.

   Nie jedoch widersprach das, was mein Vater hinzufügte, dem, was er mir bei jenem ersten Mal im Schloß Strünkede erzählt hatte. So hatte es seine Mutter mit ihm gehalten, und so werde ich es mit meinem Sohn halten. Und wenn der einmal fünfzehn Jahre alt ist, wird er die ganze Geschichte erzählt bekommen, so wie mein Vater am Abend meines fünfzehnten Geburtstags damit begann, mir die ganze Geschichte zu erzählen. Heute erzählen wir sie uns gegenseitig, manchmal abwechselnd, manchmal sogar zu Dritt, oder wir diskutieren stundenlang darüber, ob Nap Irs nun vom Felsen gestürzt hat oder nicht.

   Wie oft alle Geschichten im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende erzählt und inwieweit sie dabei von jedem Erzähler verändert worden sind, wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß es die Mutter meines Vaters und deren Mutter und deren Mutter und deren Mutter und wiederum deren Mutter waren, die sie weitergegeben haben, wahrscheinlich, weil die Männer in dieser Zeit, als unsere Familie aus Polen über Schlesien ins Ruhrgebiet einwanderte, viel zu sehr damit beschäftigt waren, ihre Felder zu bestellen und später einzufahren und das schwarze Gold des Ruhrgebiets, die Steinkohle, ans Tageslicht zu fördern. Irgendwo verliert sich die Spur der Erzähler, wenn auch nicht die Geschichten, vor ›vielen und nochmals vielen Jahren‹. Zeit genug für unsere Vorfahren, von den Orkneyinseln aufs europäische Festland zu wandern und nach Polen zu kommen. Zeit genug - gute viertausend Jahre, grob über den Daumen gepeilt -, um noch etliche Umwege einzulegen. Zeit genug, um sich, als es denn auch bei uns in Nord- und Mitteleuropa die Schrift gab, Notizen zu machen, vielleicht sogar alle Geschichten aufzuschreiben. Wer weiß.

    1966, als mein Vater mir die Geschichte zu erzählen begann, war das Grab der Adlerleute, auf das Ronald Simison acht Jahre zuvor bei der Suche nach orkadischen Sandsteinplatten für eine Feldumrandung  gestoßen war, nach einer kurzen Stichgrabung längst wieder verfüllt worden. Die knappe Notiz, die damals in der schottischen Fachpresse erschien, hat in jenen Internet-losen Zeiten nicht ihren Weg ins Deutschland des Wirtschaftswunders gefunden. Mein Vater, der sich bis zu seiner Frühpensionierung vom einfachen Bergmann zum Steiger hochgearbeitet hatte, hat ohnehin nie ein Wort Englisch gesprochen. Ich denke, ich war die Erste in der langen Kette von Erzählern, die irgendwann wissen wollte, wann genau Sihrus ermordet wurde. Die Himmelskonstellationen lassen nur einen Schluß zu: Nach unserem Kalender muss es gegen 3.20 Uhr am 10. April 2353 vor Christus gewesen sein.

   Auch Ronald Simison, Bauer und autodidaktischer Heimatforscher, wollte es irgendwann wissen, wollte endlich Antworten auf seine Fragen erhalten. Er beschloß, nicht länger auf Hilfe der Experten aus Edinburgh zu warten. 1976, achtzehn Jahre nach der ersten Sondierung, grub er nach allen Regeln der archäologischen Zunft jenes Ahnenhaus aus, das Lasra beschreibt. Es besitzt tatsächlich eine langgestreckte Grabkammer aus fünf Kompartimenten, von der drei niedrige Seitenkammern abgehen, und ist so nach Ost-Nordosten ausgerichtet, daß die Sonne im Frühjahr und im Herbst durch den Grabgang, der ursprünglich wesentlich länger war als heute, in die Grabkammer fällt.  Simison holte Tonscherben und Tierknochen aus dem Grab, beinerne Perlen, eine polierte Steinaxt, einen primitiven Pflug, Adlerskelette und jenen grob würfelförmigen Stein, mit dem die Erdfrau die Geister der Ahnen endgültig freisetzte. Und er holte die Gebeine von 342 Individuen heraus. Unter ihnen müssen sich auch die Gebeine all derjenigen Adlerleute befinden, die in dieser ersten Geschichte eine Rolle spielen, nicht zuletzt die des Opfers. Die Person jedoch, die den vielversprechenden jungen Mann tötete, hat, dessen bin ich gewiß, keinen Platz bei den Ahnen der Adlerleute gefunden.